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Die Grenzen der Standardisierung: Warum der Nahverkehr eigene Leit- und Fahrgastsysteme braucht

10.09.2020 - Technologie, Verkehr

Die Rhätische Bahn befördert auf ihren Strecken nicht nur Pendler, sondern auch Touristen aus aller Welt. Quelle: Rhätische Bahn

Der Regional- und Nahverkehr wird in den kommenden Jahren weiter an Bedeutung zunehmen – sei es durch die Diskussion um die Schadstoffbelastung oder durch die Überlastung der Straßen in den Städten. Vor diesem Hintergrund muss das Angebot sukzessive erweitert werden. Eine Möglichkeit ist der Ausbau der Infrastruktur, wobei hiermit lange Zeiträume für Planung, Genehmigung und Bau verbunden sind. Hoch im Kurs steht dagegen die Erhöhung der Taktfrequenz durch kürzere Zugfolgen.

Wie sieht es dabei mit der erforderlichen Technik aus? Können Systeme, wie sie bereits in den Neubausystemen aus Asien oder Südamerika bekannt sind, verwendet werden? Oder sind es Leitsysteme, wie sie in den vergangenen Jahren im Fernverkehr entwickelt wurden?

Betreiber, Städte und Kommunen suchen händeringend nach effizienten Lösungswegen, um das kontinuierlich wachsende Fahrgastaufkommen schnell und verlässlich bedienen zu können. Da ein Neubau von Infrastrukturen zeit- und kostenaufwändig ist, gilt im urbanen Kontext eine Takterhöhung der Fahrten als bevorzugter Lösungsansatz.

Doch auch hier gibt es limitierende Faktoren. Dazu zählen z. B.

  • die Fahrzeugbeschaffung,
  • die Gewinnung und Ausbildung zusätzlichen Fahrpersonals sowie
  • vorhandene Technik, die im Zuge einer höheren Taktung schnell an ihre Grenzen stößt.

Aus diesem Grund rückt automatisiertes Fahren immer stärker in den Blick der Betreiber von ÖPNV-Systemen – was auch die (Teil-) Automatisierung der komplexen Steuerungsprozesse umfasst.

Vorrangig aus dem Standardisierungsumfeld gibt es Forderungen, praxisbewährte Lösungen aus dem Fernverkehr zu übernehmen. Doch die Annahme der einfachen Übertragbarkeit der Leitsysteme erweist sich als Trugschluss. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass es sich in den meisten Fällen nicht um völligen Neubau der Infrastruktur handelt, weist der Nah- und Regionalverkehr wesentliche Unterschiede zum Fernverkehr auf, die es in den Leitsystemen zu beachten gilt.

Kurze Strecken und Fahrzeiten

Zentraler Unterschied zum Fernverkehr ist der kürzere Abstand zwischen den einzelnen Bahnhöfen und damit deutlich kürzere Fahrzeiten zwischen den Stationen.

Hieraus ergeben sich weitere Besonderheiten und zusätzliche Herausforderungen an ein Leitsystem: So sind die Fahrzeiten und die Haltedauer auf den Bahnhöfen – also die Zeit für Fahrgastwechsel – oft gleich groß. Nur selten berücksichtigen sie Knotenpunkte mit erhöhtem Fahrgastaufkommen. Das führt dazu, dass, anders als im Fernverkehr, bereits kleine Unregelmäßigkeiten schnell zu einem unpünktlichen Betrieb führen, da keine Puffer zum Aufholen von Verspätungen vorhanden sind.

GIS-Karte zur Fahrzeugverfolgung. Quelle: PSI
GIS-Karte zur Fahrzeugverfolgung. Quelle: PSI

Damit die Leitsysteme bei den kürzeren Fahrstrecken und bei einer hohen Taktung der Züge verlässlich funktionieren, ist eine präzise und kleinteilige Lokalisierung der Fahrzeuge erforderlich. Satellitenortung ist in den vergangenen Jahren auf Grund der verschiedenen Systeme GPS, GNSS und Galileo deutlich besser geworden, kann aber bei Tunneln oder in den überdachten Viadukten der U-Bahnen nicht zum Einsatz kommen.

Als vielversprechender Lösungsansatz gilt z. B. der Einsatz von Balisen im Gleis oder RFID-Tags (RFID: radio-frequency identification) an den Bahnsteigen. Mit solchen Systemen zur Fahrzeugortung ist ein teilautomatisierter oder vollautomatischer Betrieb auf der Grundlage von GoA0 bis GoA4 umsetzbar.

Was ist eine Balise?

Eine Balise ist ein im Gleis montierter Informationsträger – ein magnetisch gekoppelter Transponder. Dieser überträgt bei der Überfahrt einen Datensatz auf das Fahrzeug und ermöglicht eine punktuelle Informationsübertragung von der Strecke auf das Fahrzeug.

Störungen erfordern schnelle Reaktionen

Im Nahverkehr sind in aller Regel keine alternativen Fahrwege vorhanden, auf die bei Störungen ausgewichen werden könnte. Das ist ein wesentlicher Unterschied zum Fernverkehr, der in den Leitsystemen für die Disposition Berücksichtigung finden muss. Dieses und die hohe Taktung im Betrieb erfordern schnellere Reaktionen bei Störungen. Das betrifft die Entscheidungsfindung und Information der Fahrgäste gleichermaßen. Hier leisten spezialisierte Leitsysteme wertvolle Dienste, z. B. indem die Entscheidungszeit mithilfe von Vorlagen für typische Störungen verkürzt wird.

Um schnell handeln zu können, müssen Bediener schnell Prioritäten erkennen. Dementsprechend müssen Systeme schnell die notwendige Übersicht verschaffen und mit wenigen Klicks bedienbar sein. Dazu gehört, dass die entsprechenden Dialoge während dieser Entscheidungsprozesse mit Live-Daten aktuell bleiben und durch eine Vorschau in der Disposition mögliche Folgekonflikte sofort sichtbar und vor allem vermieden werden.

Großes Potenzial schlummert nicht zuletzt im Einsatz von KI-Technologien. Damit können Entscheidungen und deren Wirksamkeit über einen längeren Zeitraum aufgezeichnet und anschließend für die Prozessverbesserung ausgewertet werden.

Infrastruktur und Fahrbetrieb in einer Hand

Ein großer Vorteil des Nahverkehrs ist in aller Regel die spezielle Eigentümersituation. Anders als im Fernverkehr ist es bei U- und Straßenbahnen selbstverständlich, dass Infrastruktur und Betrieb bei einem Eigentümer liegen. Im Nahverkehr der Regionalbahnen der Vollbahnen wird dieser Vorteil bereits aufgebrochen.

Sämtliche Informationen müssen möglichst früh und übersichtlich zur Verfügung stehen, um richtige Entscheidungen zu treffen. Quelle: PSI
Sämtliche Informationen müssen möglichst früh und übersichtlich zur Verfügung stehen, um richtige Entscheidungen zu treffen. Quelle: PSI

Die enge Verzahnung von Infrastruktur und Betrieb schafft deutlich vereinfachte Organisationsstrukturen hinsichtlich der Vernetzung und Ausstattung von z. B. Fahrwegen, Bahnhöfen und Tunneln.

Damit ist die Gestaltung eines durchgängigen, medienbruchfreien IT-Systems einfacher – von der Datenerhebung bzw. Fahrzeugverfolgung über die Steuerung der Fahrzeuge und Betriebsabläufe bis zur Fahrgastinformation. Da Betrieb und Infrastruktur in einer Hand sind, können Dispositionssysteme direkt auf die Daten des Stellwerkes zugreifen. Das vereinfacht die Zuglaufverfolgung und ermöglicht das verzögerungsfreie Stellen von Fahrstraßen – über sichere und zertifizierte Schnittstellen hinweg. Die funktionale und betriebliche Sicherheit bleibt weiter im Stellwerk.

Verlässliche Fahrgastinformationssysteme

Nicht zuletzt gilt es, die Besonderheiten des städtischen Nahverkehrs funktional auch in den Fahrgastinformationssystemen abzubilden.

Für Nah- wie für Fernverkehr gilt: Das Fundament für eine gute Qualität der Informationssysteme bildet die durchgängige Ortung und Steuerung der Fahrzeuge.

Im Fernverkehr geht es vor allem um die korrekte Darstellung der Position am Bahnsteig, an der sich der Wagen mit der gebuchten Reservierung befindet. Oder es geht um die Darstellung der Ankunft der nächsten Fahrt auf einem Anzeiger. Eine moderne Fahrgastinformation im Nahverkehr umfasst weit mehr als das.

Gefordert ist z. B.

  • die Bereitstellung von verlässlichen Informationen über die folgende Fahrt mit ihrem Endbahnhof,
  • eine türgenaue Anzeige des Besetztgrades der Abteilungen bzw. Fahrzeuge, um barrierefreie Einstiegpositionen anzeigen zu können sowie
  • die Einheitlichkeit der Informationen über alle Anzeige- und Ansagemedien, Apps und soziale Medienkanäle der Verkehrsbetriebe.

Die Rhätische Bahn macht’s vor

Was ein solches Dispositionssystem mit integrierter Fahrgastinformation im Regionalverkehr leisten kann, zeigt z. B. die Rhätische Bahn (RhB). Ihr Netz umfasst rund 100 kommerzielle Bahnhöfe und Haltestellen. Auf seinen Strecken befördert das Schweizer Verkehrsunternehmen nicht nur Pendler, sondern auch internationale Touristen. Zudem ist es gefordert, den unterschiedlichen Interessen der Fahrgäste gerecht zu werden.

Quelle: Rhätische Bahn
Quelle: Rhätische Bahn

Hierfür setzt die RhB auf ein multilinguales Dispositions- und Fahrgastinformationssystem der PSI. Das System ist in verschiedenen Ausbaustufen modulartig konzipiert – je nach Wichtigkeit und Größe des Bahnhofes. Von besonderer Bedeutung ist die aktuelle Einführung von Shuttlefahrzeugen bzw. Flügelzügen, durch die neue Betriebsformen umsetzbar sind. Flügeln und Kuppeln von Fahrzeugen, die gemeinsam in Traktionen fahren, sind heute im Regionalverkehr verstärkt anzutreffen. Der Verzicht auf rein lokbespannte Züge macht es möglich, ein gutes Angebot auch in weniger frequentierten Gebieten anzubieten – und zwar mit wenigen zusätzlichen Triebfahrzeugführern.

Für die Disposition und Fahrgastinformation bedeutet die neue Betriebsform ebenfalls besondere Herausforderungen, z. B.

  • Zugteile ihrem jeweiligen Ziel zuzuordnen und
  • der Umgang mit den einzelnen Zugteilen bei Verspätungen.

Im Detail heißt das: Disponenten stehen früh und übersichtlich Informationen zur Verfügung, um richtige Entscheidungen zu treffen und Fahrgäste präzise zu informieren.

Zum Einsatz kommen z. B. TFT-Überkopfanzeiger (TFT: Thin-Film-Transistor) mit Formationsangaben zu den Flügelzügen. Über eine Schnittstelle zum Wagenmanagementsystem wird die aktuelle Zugkomposition importiert und den Fahrgästen angezeigt (1. Klasse, 2. Klasse, Speisewagen). Sektorinformationen werden nach der tatsächlichen Zugkomposition ermittelt und zur Anzeige gebracht (welcher Zugteil mit welchem Zugziel hält in welchem Sektor). Dabei reagiert die Fahrgastinformation vollautomatisch auf dispositive Eingriffe (z. B. Reihenfolgetausch am Kupplungsbahnhof oder abweichender Zugstärke) und übermittelt dem Lokführer die erforderlichen Informationen zum neuen Haltepunkt im Bahnhof.

Eigene Systeme für den Nahverkehr

Der Wunsch, vorhandene, praxisbewährte Standard-Leitsysteme zu übernehmen, ist mehr als verständlich. Ein Blick in die Praxis verdeutlicht wesentliche Unterschiede von Nah- und Fernverkehr – insbesondere auch, weil es sich nur sehr selten um einen völligen Neubau von Infrastrukturen handelt. Der Nahverkehr bedarf daher eigener, auf die speziellen Herausforderungen angepasster Standardsysteme. Aus technischer Sicht gibt es hier keine Hürden.

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Torsten Vogel

Geschäftsführer PSI Transcom GmbH