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Gelassen durch die Energiewende - mit einem intelligenten Autopiloten für die Netzführung

24.05.2019 - Energie, Künstliche Intelligenz, Forschung, Nachhaltigkeit

Spannungsdarstellung als Isoflächen bzw. als Zeitrafferfilm. Screenshot: PSI
Spannungsdarstellung als Isoflächen bzw. als Zeitrafferfilm. Screenshot: PSI

Durch die Energiewende hat sich die Erzeugungslandschaft wesentlich verändert: Die dezentrale Energieeinspeisung, der steigende Anteil erneuerbarer Energien und der Ausstieg aus der Kernenergie stellen enorme Anforderungen an die Netze und den Netzbetrieb. Diesen Anforderungen können Netzbetreiber ohne intelligente Softwareunterstützung kaum noch nachkommen.

Mit Teamwork zum Autopiloten für die Netzführung

Der Übertragungsnetzbetreiber TenneT TSO GmbH stand vor einigen Jahren vor der Aufgabe, die zunehmende Komplexität in den Griff zu bekommen. PSI entwickelte deshalb in enger Zusammenarbeit mit TenneT einen smarten Autopiloten für die Netzführung. Die Lösung ist das System PSIsaso (SASO - Security Assessment and System Optimization), das gängige Verfahren zur Netzzustandsbewertung mit Algorithmen der Fuzzy-Logik verbindet.

SASO Security Assessment & System Optimization: Der Autopilot für den Netzbetrieb.

PSIsaso ist als eigenständiges System konzipiert, das über Schnittstellen zum Netzleitsystem und zu weiteren Informationssystemen alle benötigten Informationen bündelt. Basierend darauf analysiert es laufend den Netzzustand, bewertet ihn und ermittelt in kritischen Situationen im Sinne eines Assistenzsystems Handlungsempfehlungen für die Netzführung. Zudem dient es auch als Entwicklungsplattform für neue Werkzeuge und innovative Bedien- und Visualisierungskonzepte.

Entscheidungsunterstützung im Blindleistungsmanagement

Die enormen Veränderungen in der Erzeugungslandschaft wirken sich auch auf die Spannungshaltung im Übertragungsnetz aus. Die Blindleistungsreserven nehmen ab und führen zu einer geringeren Spannungsstabilität. Die Kraftwerkskapazität reicht häufig nicht mehr aus, um lokale Blindleistungsdefizite im Netz auszugleichen. Das System ermittelt, wieviel Blindleistung an welchen Stellen im Netz aus welchen Quellen (u. a. HGÜ-Konverter und Kompensationsanlagen) bereitgestellt werden sollte. Berücksichtigt werden dabei sämtliche netz- und marktbezogenen Maßnahmen, die dem Übertragungsnetzbetreiber zur Verfügung stehen.

Steuerplan für das Blindleistungs-Management. Screenshot: PSI
Steuerplan für das Blindleistungs-Management. Screenshot: PSI

Zur Entscheidungsunterstützung und zur Optimierung der Blindleistungsbereitstellung werden Fuzzy-Logik-Algorithmen der PSI genutzt, die Handlungsalternativen im Hinblick auf verschiedene wirtschaftliche und betriebliche Ziele bewerten.

Auf diese Art und Weise wird technische Zuverlässigkeit mit menschlicher Flexibilität zusammengeführt und mit bestmöglicher Genauigkeit verbunden. Als Ergebnis liefert das System in einer kritischen Netzsituation ein Maßnahmenpaket, das sowohl durch die Verfahren der Netzzustandsbewertung validiert, als auch in Bezug auf die Prozessziele optimiert wurde.

Dynamische Stabilitätsanalyse

Ein elektrisches Energiesystem ist stabil, wenn es nach einer Störung in einen zuverlässigen, ausgeglichenen Zustand zurückkehrt. In Zusammenarbeit mit TenneT entwickelt PSI im Rahmen des SASO-Projekts ein Modul zur Online-Bewertung der dynamischen Stabilität (Dynamic Security Assessment, DSA):

Kernfunktionen der dynamischen Stabilität (DSA)

  • Online-Analyse der Polradwinkel und Spannungsstabilität
  • Schnelle Bewertung des Netzzustandes durch ein hierarchisches Visualisierungskonzept
  • Verbesserung des Situationsbewusstseins durch frühzeitiges Erkennen möglicher Probleme
  • Verbesserung der Systemsicherheit und effizientere Nutzung der Netzkapazität
  • Entscheidungsunterstützung: Ermittlung der optimalen Gegenmaßnahmen für kritische Situationen
  • Standardisierte Schnittstellen (u. a. CGMES)

Der Fokus liegt dabei auf der Analyse der Polradwinkelstabilität sowie der Spannungsstabilität.

Die Polradwinkelstabilität beschreibt die Fähigkeit der Synchronmaschinen im Netz, nach einer großen Störung, wie einem dreipoligen Kurzschluss, stabil und synchron zu bleiben. Die Phänomene, die durch ein plötzliches Ungleichgewicht der Drehmomente ausgelöst werden, spielen sich innerhalb weniger Sekunden ab. Man spricht daher auch von transienter Stabilität.

Der Stabilitätsmonitor gibt eine Übersicht über den Stabilitätszustand des Energienetzes. Screenshot: PSI
Der Stabilitätsmonitor gibt eine Übersicht über den Stabilitätszustand des Energienetzes. Screenshot: PSI

Spannungsinstabilität tritt dann auf, wenn die physikalische Übertragungskapazität des Netzes durch große Stromtransporte überschritten wird. Dann ist das elektrische System nicht mehr in der Lage, die Spannung innerhalb der erlaubten Spannungsbänder zu halten. Dies kann zu einem vollständigen Zusammenbruch der Netzspannung (Spannungskollaps) führen.

Geänderte Erzeugungsstruktur führt zu größerer Komplexität

Leistungsflüsse von den Erzeugern zu den Verbrauchern. Screenshot: PSI
Leistungsflüsse von den Erzeugern zu den Verbrauchern. Screenshot: PSI

Die Öffnung der europäischen Strommärkte in Verbindung mit dem starken Ausbau der erneuerbaren Energien (vor allem Wind- und Solarenergie) führt vermehrt zu grenz- bzw. regelzonenüberschreitenden Stromtransiten, die mit einer höheren Auslastung der bestehenden Netze und mit Energietransporten über weite Entfernungen verbunden sind. Dabei werden die elektrischen Übertragungsnetze immer näher an ihre Betriebs- und Stabilitätsgrenzen getrieben. Mit der Zunahme der stromrichterbasierten Erzeugungsanlagen für erneuerbare Energien, die die Großkraftwerke mehr und mehr verdrängen, geht zudem eine Abnahme der rotierenden Masse (Momentanreserve) einher. Das dynamische Verhalten des elektrischen Energiesystems verändert sich damit grundlegend.

Die Änderung der Erzeugungsstruktur, das geänderte dynamische Verhalten und die steigende Volatilität  bedeuten für das Wartenpersonal eine größere Komplexität und eine höhere Vielfalt an schnell wechselnden Netzsituationen.

Als Online-Assistenzsystem unterstützt PSIsaso den Netzführer dabei, kritische Situationen rechtzeitig zu erkennen und geeignete Gegenmaßnahmen zu finden.

Wie funktioniert die dynamische Stabilitätsanalyse?

Die Erstellung des Datenmodells für die dynamische Stabilitätsanalyse erfolgt durch "Anreicherung" des bereits für die stationäre Netzanalyse vorhandenen Datenmodells, durch zusätzliche detaillierte dynamische Modelle z. B. der Generatoren, HGÜ-Strecken und FACTS-Elementen sowie deren Regler.

Das transiente Stabilitätsverhaltens wird überwiegend anhand der zeitlichen Verläufe der Polradwinkel bzw. der Spannungswinkel analysiert, unter Annahme verschiedener vorgegebener Fehlerszenarien. Die zeitlichen Verläufe dieser Größen werden dabei durch schrittweise numerische Integration des Differenzialgleichungssystems berechnet, das das Systemverhalten beschreibt.

Für die Quantifizierung der transienten Polradwinkelstabilität ist die kritische Fehlerklärungszeit eine wichtige Kenngröße. Die Fehlerklärungszeit bezeichnet die maximal zulässige Dauer eines dreipoligen Kurzschlusses, bei der das System noch stabil bleibt und wird für jedes Fehlerszenario ermittelt.

Der Systemzustand bezüglich der transienten Stabilität wird durch den Transient-Stability-Stress-Factor (TSSF) charakterisiert, der aus dem Verhältnis einer vorgegebenen Mindest-Fehlerklärungszeit (z. B. 150 ms) zu der ermittelten kritischen Fehlerklärungszeit gebildet wird.

Für die Beurteilung des dynamischen Stabilitätszustands wird der kritischste (d. h. größte) ermittelte TSSF aus allen relevanten Fehlerszenarien herangezogen. Die Bewertung des Netzzustands im Rahmen der Betriebsführung kann dann z. B. durch Zuordnung von Warn- und Alarmgrenzen zu diesem Wert erfolgen.

Online-Bewertung der dynamischen Stabilität wird zukünftig immer wichtiger

Eine Bewertung der dynamischen Netzstabilität erfolgt bislang anhand von Offline-Simulationsrechnungen basierend auf Worst-Case-Szenarien, die im Rahmen von Planungsstudien ein- bis zweimal im Jahr durchgeführt werden. Daraus werden Stabilitätsgrenzen mit "Sicherheitspuffer" für die Nutzung in der Betriebsführung abgeleitet.

Die vorab ermittelten Stabilitätsgrenzen können jedoch zu einem ineffizienten Netzbetrieb führen, da die Worst-Case-Betrachtung in den meisten Netzsituationen zu pessimistisch ist. Die Bestrebungen zu einer höheren Auslastung der Netze, beispielsweise durch die Erhöhung der thermischen Stromgrenzwerte mit Hilfe des witterungsabhängigen Betriebs von Freileitungen (Freileitungsmonitoring) und den Einsatz von Hochtemperatur-Leiterseilen, können andererseits in bestimmten Situation dazu führen, dass die Übertragungsleistung nicht mehr durch die thermischen Grenzen limitiert wird, sondern durch die Stabilitätsgrenzen.

Stationäre Netzsicherheitsrechnungen basierend auf Lastflussanalysen reichen daher unter Umständen mittelfristig nicht mehr aus, um verlässliche Aussagen über die Systemsicherheit in kritischen Situationen zu erhalten. Vielmehr werden zukünftig neue Instrumente zur Bewertung der dynamischen Netzstabilität benötigt, die zur Verbesserung des Situationsbewusstseins beitragen und das Wartenpersonal bei der Ermittlung und Bewertung von geeigneten Gegenmaßnahmen unterstützen: beginnend bei der Day-ahead- und Intraday-Planung bis hin zur Online-Überwachung.

Das Visualisierungskonzept von PSIsaso

Die Visualisierungskomponente hat die Aufgabe, ein schnelles Erkennen und Bewerten des Stabilitätszustands zu ermöglichen und damit auf zielgerichtete und übersichtliche Weise ein Bewusstsein für die aktuelle Situation zu schaffen.

Visualisierung der Netzauslastung durch eine Heatmap. Screenshot: PSI
Visualisierung der Netzauslastung durch eine Heatmap. Screenshot: PSI

Um dieser Anforderung gerecht zu werden, wurde ein hierarchisches Visualisierungskonzept mit drei Ebenen realisiert:

  • In der höchsten Visualisierungsebene werden globale Stabilitätszustände in einem Stabilitätsmonitor angezeigt. Ein globaler Stabilitätszustand fasst die Ergebnisse der Fehlerszenarien übergreifend für eine Zeitscheibe zusammen. Liegen kritische Zustände vor, muss der Netzführer weitere Informationen erhalten.
  • In der mittleren Visualisierungsebene werden die Stabilitätszustände, bezogen auf einzelne Fehlerszenarien, mit ihren relevanten Informationen dargestellt.
  • Die unterste Visualisierungsebene ermöglicht eine detaillierte Analyse der Simulationsergebnisse auf der Ebene der relevanten Elemente bzw. deren Größen, wie z. B. zeitliche Verläufe der Polradwinkel oder Spannungen von Generatoren in Form von Kurvendarstellungen oder Tabellenausgaben der entsprechenden Werte.

Handlungsempfehlungen in kritischen Netzsituationen

Werden durch PSIsaso kritische Fehlerszenarien festgestellt, so ermittelt das DSA-Modul geeignete Gegenmaßnahmen, die das System wieder in den stabilen Zustand zurückführen.

Dabei kann es sich zunächst um netzbezogene Maßnahmen zur Verschiebung der Leistungs-Polradwinkel-Kennlinie handeln wie topologische Maßnahmen, Stufenstellungsänderungen von Maschinentransformatoren oder die Anpassung von Blindleistungseinspeisungen.

Reichen diese Maßnahmen nicht aus, um die Stabilität in allen betrachteten Szenarien wiederherzustellen, können auch marktbezogene Maßnahmen in Betracht gezogen werden. Durch eine iterative Umverteilung der Generatorwirkleistungen werden die kritischen Fehlerklärungszeiten dabei so optimiert, dass in der anschließenden Validierungsphase bei keinem Fehlerszenario mehr Instabilitäten auftreten.

Blick in die Zukunft

Bis zum Jahr 2030 sollen 65% des Strombedarfs in Deutschland aus erneuerbaren Energien gedeckt werden. Unterschiedliche Umsetzungsgeschwindigkeiten zwischen Netzausbau und dem Zubau erneuerbarer Energien beeinträchtigen jedoch zunehmend den Netzbetrieb. Die Sicherstellung der Netz- und Systemsicherheit wird damit noch komplexer und kostenintensiver.

PSI leistet mit PSIsaso einen aktiven Beitrag zur Energiewende, der dabei hilft, die Netze auch in Zukunft bei steigender Komplexität sicher und wirtschaftlich betreiben zu können.

In öffentlichen Forschungsprojekten, an denen PSI beteiligt ist, werden innovative Ansätze untersucht, die eine Höherauslastung des verfügbaren Netzes bei mindestens gleichbleibender Systemsicherheit ermöglichen können.

Der Autopilot für die Netzführung wird dabei in einem Feldtest bei TenneT eingesetzt, um die Funktionalität und Wirksamkeit der entwickelten Konzepte in netzleitsystemnaher Umgebung auf Basis von Echtzeitdaten zu demonstrieren.

Dr. Michael Heine

Der Autor arbeitet seit mehr als 20 Jahren in der Software-Entwicklung im Umfeld der Netzleittechnik. Seit 2010 leitet er den Bereich HEO (Höhere Entscheidungs- und Optimierungsfunktionen) bei der PSI Software AG in Aschaffenburg.