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Digitaler Streckenatlas: Vernetzte Prozesse - die Basis für die digitale Bahn

25.01.2023 - Verkehr, Energie, Nachhaltigkeit

Regionalverkehr Bern-Solothurn: Die Worbla mit der Seconda. Quelle: PSI
Regionalverkehr Bern-Solothurn: Die Worbla mit der Seconda. Quelle: PSI

Papierberge gibt es in den meisten Verkehrsunternehmen schon lange nicht mehr. Wer heute von Digitalisierung spricht, meint die schrittweise Vernetzung der ehemals unabhängigen und nun digitalisierten Prozesse zu einem integrierten und hocheffizienten Gesamtsystem. Damit dies gelingt, benötigen die Verkehrsunternehmen unter anderem detaillierte und vollständige Streckendaten für alle Kunden - eine Art digitalen Streckenatlas.

Die Weiterentwicklung des Schienenverkehrs der letzten Jahre ist geprägt von der Digitalisierung. Die bloße Automatisierung manueller und papierbehafteter Prozesse ist damit aber nur noch selten gemeint. Vielmehr geht es darum, die vielen unterschiedlichen und zuvor autonomen und inzwischen digitalisierten Bereiche lückenlos miteinander zu vernetzen. Denn ihr nahtloses Zusammenspiel im Sinne der „digitalen Bahn“ eröffnet weitere erhebliche Potenziale. Dazu zählen z. B. eine

  • verbesserte Pünktlichkeit,
  • energieoptimiertes Fahren oder
  • optimal genutzte Zugflotten.

Ähnlich wie das „Building Information Modeling“ in der Baubranche von Anfang an nicht nur den Bau, sondern auch die spätere Bewirtschaftung von Gebäuden integriert plant, bedarf es daher auch im Bahnbetrieb einer vollständigen Datenerfassung und vernetzten Planung für alle beteiligten Abteilungen. Zwar machen die erheblich höhere Komplexität und heterogeneren Anforderungen im Vergleich zum Bauwesen diesen Prozess deutlich umfangreicher, das Ziel der Erstellung eines digitalen Streckenatlasses ist aber dasselbe:

Vermeidung einer aufwändigen und fehleranfälligen doppelten Datenhaltung in verschiedenen Einzelprojekten sowie Berücksichtigung der angestrebten Synergien möglichst frühzeitig im Planungsprozess.

Vernetzung macht den Unterschied

Durch die Verknüpfung von modernen Stellwerken und neuer Sicherungstechnik können Verkehrsunternehmen z. B. fortschrittliche Zugbeeinflussungssysteme (ETCS) einsetzen, die schnell und effizient auf Ressourcenkonflikte reagieren. Sie erkennen nicht nur technische Defekte oder Verspätungen, sondern bewerten auch ihre Auswirkungen. Teilautonome Betriebsabläufe in ersten ATO-Projekten in der Umsetzung erfordern ebenfalls eine digitale Modellierung der gesamten Infrastruktur.

Die Qualität im Betriebsablauf lässt sich ebenfalls durch Vernetzung und Integration aller Bereiche über möglichst standardisierte Schnittstellen massiv verbessern. Die enge Verzahnung von Werkstattplanung, Fahrzeugdisposition und Störungsmanagement im Fahrplan führt z. B. zu einer

  • gleichmäßigeren Auslastung der Werkstatt,
  • reduziert Aufwände bei der Fahrzeugzuführung und
  • sorgt für eine höhere Fahrzeugverfügbarkeit in der Disposition.

Der Softwaremarkt bietet hierfür bereits vollständige vernetzte Systeme. So integriert das System PSItraffic Fahrzeug- und Werkstattdisposition mit einem Train Control System oder Zuglenksystem, das Züge vollautomatisch lenkt und Konflikte auf (Teil-) Fahrstraßenebene ermittelt. Selbst Lösungen für Konflikte, z. B. bei veränderter Zugreihenfolge oder notwendiger Umfahrung von gesperrten Gleisen, können errechnet und per Knopfdruck aktiviert werden.

Daten liefern die Basis für verlässliche Antworten

Da das System auch alle Folgefahrten, Anschlüsse und Werkstattbestellungen berücksichtigt, müssen Fahrdienstleiter und Disponenten im Konfliktfall nur noch per Mausklick die gewünschte Lösung auswählen, was eine erhebliche Arbeitserleichterung bedeutet.

Plant ein Verkehrsunternehmen den Neubau eines Stellwerks, die Erstellung einer digitalen Fernsteuerung, die Einführung eines automatischen Fahrbetriebs oder die Modernisierung der Zuglenkung, genügt es aber nicht, wenn wie bislang nur Informationen zum Schienennetz und zu den Signalpositionen vorliegen.

Wer von den Vorteilen der Digitalisierung und Vernetzung aller Systeme profitieren will, benötigt als Basis die gesamte Projektierung in elektronischer Form.

Dazu zählen auch Daten, die oftmals tief in der Stellwerksprojektierung versteckt sind, z. B. Durchrutschwege, Flankenschutz sowie die sich daraus ergebenden Fahrstraßenausschlüsse. Zudem müssen auch alle Informationen aus flankierenden Fremdsystemen miteinfließen.

Diese Fragen muss ein durchgängiges System kontinuierlich beantworten:

  • Wann kann eine Fahrstraße gestellt werden, ohne andere Züge zu behindern?
  • Wird der gerade eingefahrene Zug rechtzeitig wieder abfahren, um die Strecke für den nächsten Zug freizugeben?
  • Welche Umfahrungen sind bei verspätungsbedingten Konflikten möglich und sinnvoll?
  • Unter welchen Bedingungen wird die Zugreihenfolge geändert, wenn verspätete Züge von verschiedenen Linien auf eine gemeinsam genutzte Strecke einfahren?
  • Wo befinden sich Gefahrenstellen, an denen langsamer gefahren werden muss?
  • Welche Beschleunigung ist – unter Berücksichtigung der Gleisplangeometrie wie Steigungen und Kurvenradien – optimal, um die Ankunftszeit bei minimalem Energieverbrauch einzuhalten?
  • Welche Anschlüsse sollen gehalten werden, wie viel Spielraum gibt es dafür und welche Umsteigezeiten sind erforderlich?
  • Wann muss ein Halt um einige Sekunden verlängert werden, um einen Anschluss bei einem leicht verspäteten Zubringer zu halten?

Auf dem Weg zur digitalen Bahn

Um Überraschungen zu vermeiden, steht am Anfang des Prozesses die Erfassung der technischen Infrastruktur auf Basis der Gleisplanunterlagen. Anschließend werden die Stellwerksdaten (Fahrstraßen, Zeitverhalten) integriert und geprüft. Im Ergebnis liegen alle erfassten Daten konsolidiert und elektronisch vor.

Verkehrsunternehmen schaffen damit nicht nur die Basis für ein aktuelles Modernisierungsprojekt, sondern verfügen über ein zuverlässiges Fundament für weiterführende Schritte auf dem Weg zur digitalen Bahn.

Wurde z. B. das Streckennetz für eine Ablösung eines alten Stellwerks erfasst, enthält es auch nahezu alle Daten, die ein Traction Control System (TCS) oder ATO-System benötigt. Zudem lassen sich leicht Daten für alle anzuschließenden Systeme, bspw. Datendrehscheiben, extrahieren, die auf weniger detaillierten Netzmodellen arbeiten.

Gleisplaneditor (Beispiel). Quelle: NEAT
Gleisplaneditor (Beispiel). Quelle: NEAT

Rahmenbedingungen für die erfolgreiche Datenaufnahme

Für eine reibungslose Digitalisierung des Netzes haben sich folgende Rahmenbedingungen bewährt:

1. Datenerfassung im Standardformat

Die Datenerfassung sollte auf verbreiteten Standardformaten wie railML oder auf Basis von EULYNX erfolgen, damit die Daten vollständig und widerspruchsfrei in einem gut dokumentierten Format vorliegen. Dies stellt die Wiederverwertbarkeit für Folgeprojekte sicher.

2. Datenerfassung via Editor

Ein grafischer Editor macht die Erfassung weniger fehleranfällig. Inkonsistenzen zwischen verschiedenen Datenquellen können schnell und zuverlässig erkannt werden.

3. Maßgeschneiderte Sichten

Bereits früh im Prozess ist zu klären, welche Datenquellen bei der Netzerfassung integriert werden, welche Abnehmer es für die Daten gibt und worin sich die Datenmodelle unterscheiden. Die Erfassung des Gleisnetzes sollte sehr detailliert erfolgen.

Ein Gleisplan muss u.a. folgende Sichten erzeugen:

a) Verknüpfung Fahrplan/Stellwerk
Fahrplansysteme kennen oft nur eine „makroskopische“ Topologie des Netzes, Stationsgleise und die sich aus den Linienfahrten ergebenden Fahrmöglichkeiten. Für die Zuglenkung müssen diese Vorgaben in eine detaillierte Gleisplantopologie überführt werden. Soll bspw. ein Zug von einem Bahnsteig zum nächsten Bahnhof geleitet werden, muss das Zuglenksystem dieser Vorgabe eine Abfolge von Fahrstraßen zuweisen, die zudem keine Konflikte mit anderen Zügen oder Streckensperrungen erzeugt.

b) Integration Zuglenkung/Stellwerk
Vorsicht ist auch bei der Topologie von Zuglenksystemen geboten. Oftmals wird sie mit der Stellwerksicht gleichgesetzt, der sie aber nicht immer entspricht: So zerfallen Gleisabschnitte häufig in mehrere Teile, in denen sich mehrere Züge befinden können, z. B. bei geteilten  Bahnsteiggleisen oder für permissives Fahren. Ähnliches gilt für Abstellanlagen, die nach klassischer Bauweise noch ohne Achszähler oder Isolierstöße gebaut sind.

c) Integration funkbasierter Ortung
In einen digitalen Streckenatlas gehören zudem alle Daten funkbasierter Ortungssysteme – einschließlich GPS. Diese arbeiten mit räumlichen Koordinaten, die auf Gleisabschnitte abgebildet werden müssen.

d) Erfassung aller Signalpositionen
Auch Systeme, die mit Daten gleicher Detailtiefe arbeiten, basieren auf unterschiedlichen Logiken. Daher kennt das Stellwerk bspw. Abschnitte, die durch Isolierstöße oder Achszähler getrennt sind und deren Grenzen durch davorstehende Signale gesichert sind. Überfährt ein Zug ein Signal, dann befindet er sich aus Sicht des Stellwerks bereits in dem nächsten Abschnitt, obwohl das Signal tatsächlich einige Meter vor der Abschnittgrenze steht. Das Gleisplanmodell muss deshalb für einige Objekte neben der wirklichen Position in der Lage sein, virtuelle, abnehmerspezifische Positionen zu verwalten.

Digitaler Streckenatlas als Fundament der digitalen Bahn

Durch die rasante technologische Entwicklung der letzten Jahre stehen alle notwendigen Softwarelösungen sowie Standards für einen zuverlässigen und sicheren Datenaustausch zur Verfügung.

Auch wenn die letzten Details noch nicht geklärt sind, kann mit einem digitalen Streckenatlas bereits heute das Fundament für eine durchgängige und voll integrierte Planung im Bahnwesen gelegt werden.

Wie ist Ihre Meinung zu diesem Thema?

Robert Baumeister 
Division Manager TMS/ITCS bei PSI Transcom GmbH 
rbaumeister@psi.de